Chenjiagou – Ursprungsort des Taijiquan

Chenjiagou – Ursprungsort des Taijiquan

Staubig ist es, wenn man sich dem Dorf nähert; die Landschaft ist flach, es sind Felder zu sehen, ein paar Bäume durchziehen die Fluren, ein Kanal kreuzt die Hauptstraße. Schließlich ein paar kleine, meist einstöckige Bauten aus Ziegeln. Markfrauen stehen am Straßenrand und bieten Obst und Gemüse an, Hunde liegen im Schatten oder streunen um die Häuser, Kinder spielen im Hof und auf der Straße.

Und doch: die Ortschaft Chenjiagou in der Provinz Henan, drei Busstunden von der Provinzhauptstadt Zhengzhou entfernt, mag zwar aussehen wie ein typisches Dorf auf dem Land. Trotzdem ist diese Ortschaft der Ursprungsort einer Kunst, die mittlerweile weltweit ausgeübt und praktiziert wird. Eine Kunst, welche die Gesundheit fördert, die Lebensgeister weckt und das Wohlbefinden und die innere Zufriedenheit steigert. Diese Kunst, die auf Kampfsport basiert, wurde von einem General erfunden, ja, kreiert, und zwar genau hier, in dem kleinen unscheinbaren Dorf. Chenjiagou in der Provinz Henan ist die Heimat und der Ursprungsort von – Taijiquan!

Einen ersten Hinweis auf diese historische Bedeutung erhält man, wenn man die Dorfstraße weiter entlanggeht und schließlich auf zwei etwa acht Meter hohe und fünfzehn Meter breite Torbögen trifft. Sie stehen jeweils am Anfang und am Ende eines vielleicht zweihundert Meter langen Straßenabschnitts, der von zwei Bauten dominiert wird: dem Eingang zur Taiji-Schule der Chen-Familie, und den Stufen beziehungsweise den Außenmauern des Chen-Wangting-Tempels. Chen Wangting war ein angesehener General und diente unter der Ming-Dynastie, die 1644 von der Qing-Dynastie abgelöst wurde. Chen Wangting zog sich daraufhin in sein Heimatdorf Chenjiagou zurück, reflektierte über sein bisheriges Leben, beschäftigte sich mit alten Schriften über Gesundheitspflege und studierte den Daoismus. Der alte General kombinierte all seine Erkenntnisse, Erfahrungen und Erlebnisse und schuf schließlich die Ursprungsform des heutigen Chen-Taijiquan. Davon stammen wiederum alle anderen heute bekannten Stile ab, etwa der Yang- oder der Wu-Stil.

Allen gemein ist, dass sie auf Übungen des Kampfsports basieren, gleichzeitig aber therapeutische und gesundheitsfördernde Wirkung besitzen und auch meditativ auf den Geist wirken. Der heutige Großmeister und Hauptvertreter des Chen-Stils in 19.Generation, Chen Xiaowang, umschreibt Taijiquan so: „Taijiquan ist eine Form der Kampfkunst, die auf der Yin-Yang-Theorie basiert und Wirkungsweisen der Akupunktur sowie Bewegungen des Kampfsports miteinander kombiniert. Deswegen heißt es auch Schatten-‘boxen'”.

Der Chen-Wangting-Tempel wurde auch dank des großen Engagements des heutigen Großmeisters erbaut. Das Achten und Ehren der Familientradition ist tief verwurzelt, und so steht auf dem Platz nach dem Eingang auch eine Statue des Begründers des Chen-Stils, die den Besucher quasi begrüßt. In mehreren kleinen Hallen wird zudem mit Statuen und Wandmalereien auf die Geschichte des Taijiquan, die jeweiligen Vertreter des Chen-Stils und die verschiedenen Übungs- und Anwendungsarten eingegangen. Verläßt man den Tempel am Ende des Rundgangs durch einen kleinen Seiteneingang, so gelangt man auf den Ahnenfriedhof der Familie Chen, wo Dutzende knapp drei Meter hohe Steinstelen an namhafte Familienmitglieder erinnern. Ahnenverehrung und Gedenken an die Verstorbenen ist in China eine laute Sache, und so liegen an etlichen der Stelen auch abgefeuerte Kracher und Böller, auch kleine Gaben und Blumen. Vorbei an den Stelen erreicht man schließlich eine weitläufige Parkanlage, in der verschiedene Statuen oder Blumenarrangements die Kampfkunst und den Daoismus thematisieren.

Die meiste Aufmerksamkeit erregt jedoch eine fünfstöckige Pagode: in dem mächtigen Bau in traditionellem Architekturstil ist ein modernes Museum eingerichtet, das über Taiji, dessen Wurzeln und verschiedenen Stile oder auch über einzelne Waffenformen informiert. Steht man schließlich auf der Aussichtsplattform ganz oben, so reicht der Blick weit über die angrenzenden Felder und einem Neubaugebiet hin zum alten Kern des Dorfes und schließlich zurück zum Chen-Wangting-Tempel.

Nur wenige Meter neben diesem Tempel befindet sich die bekannte Taiji-Schule der Familie Chen. Ein großes Tor dient als Eingang, und gleich dahinter erstreckt sich ein riesiger Innenhof mit einer Turnhalle im Zentrum. Vor dieser Turnhalle üben gerade etwa zehn Jugendliche Taiji, ein Lehrer gibt Anweisungen und beobachtet die Ausführungen. Daneben stehen vier oder fünf ältere Herren, alle mit einem Übungsschwert in der Hand, und praktizieren die Schwert-Form. Die Bewegungen sind langsam und fließend, harmonisch die Schwünge – weich und doch kraftvoll. Dahinter schließlich üben etwa fünfzehn Kinder, die vielleicht zehnjährigen Jungen und Mädchen lernen auf spielerische Weise den Zugang zu Taiji, wobei einige Mutige schon Sprünge und sogar Saltos machen!

Und auch Deutsche sind in diesem Frühjahr in Chenjiagou und üben zusammen mit anderen Gästen aus Brasilien, England und den USA unter Anleitung von Großmeister Chen Xiaowang. Jan Silberstorff leitet die deutsche Gruppe, er selbst hat lange in dem Dorf gelebt und auch von dem Großmeister und anderen Familienmitgliedern Taiji gelernt. Heute ist Jan Silberstorff Chef der WCTAG, dem Ableger der World Chen Taiji Association in Deutschland. Er nennt einige positive Aspekte des Taiji: „Es reduziert den Stress, es gibt einfach unheimlich Wohlbefinden, klaren Geist und das Leben macht richtig Freude.”

Sonja ist das vierte Mal mit Jan Silberstorff und der WCTAG in China – und in Chenjiagou. Auch sie ist beeindruckt von der Atmosphäre und der Internationalität an der Taiji-Schule und findet diese Erfahrung sehr bereichernd. Zusammen mit ihrem Ehemann praktiziert sie bereits seit knapp 18 Jahren Taiji und kann somit aus eigener Erfahrung weitere positive Aspekte hinzufügen: „Also Taiji wirkt sich für mich auf mein ganzes Leben aus. Auf die Gesundheit auf jeden Fall. Ich hab` große Rückenprobleme gehabt, mit Spritzen und Korsett und all diesen Dingen. Das hat sich ganz unglaublich verändert. Die Haltung hat sich verbessert und das ganze Wohlbefinden ist besser. Ich habe eine viel, viel bessere Körperwahrnehmung als ich je hatte und merke auch viel früher, wenn irgendwas nicht in Ordnung ist. Und es wirkt sich auf den ganzen restlichen Lebensbereich aus.”

Hauptverantwortlich für all diese positiven Erscheinungen ist das Anregen und Fördern von „Qi”, der „Lebenskraft” in unserem Körper. Großmeister Chen Xiaowang beschreibt diese Kraft so:„Der Westen sieht Qi als Energie an. Die Chinesen meinen, dass es sich um eine Vitalität in den einzelnen Körperpassagen handelt. Meiner Ansicht nach ist die Funktion auf die Nerven der wesentlichste Teil des Qi.” Wie dieses Qi wirkt, erkennt man, wenn man den Großmeister im Unterricht miterlebt. So wie Roland, er übt seit eineinhalb Jahren Taiji und sagt zum Unterricht von Großmeister Chen Xiaowang:
„Ja, Chen Xiaowang… Ich muss sagen, ich habe ihn diesmal das erste Mal hier erlebt, persönlich. Und er lebt natürlich von seiner Aura, die er mitbringt, einer Ausstrahlung, seiner Perfektion… Wenn man ihn dann so sieht, das ist einfach beeindruckend und motiviert einen dann auch, entsprechend wieder intensives Training aufzunehmen.”

Über die Jahrhunderte weg wurde das Wissen um Taijiquan und die Anwendung nur innerhalb der Chen-Familie weitergegeben, Anfang des 20. Jahrhunderts wurde schließlich auch in anderen Teilen Chinas dieser Kulturschatz verbreitet. Heute gibt es Taiji-Schulen und –Verbände auf allen Kontinenten, und auch Großmeister Chen Xiaowang reist in seiner Funktion als offizieller Vertreter des Chen-Stils in 19. Generation noch um die Welt, um diese Kunst mit ihrem Ursprung in einem kleinen chinesischen Dorf und all die damit verbundenen positiven Aspekte bekanntzumachen.

 

Zuerst erschienen auf german.cri.cn

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