Der italienische Journalist Edoardo Fazzioli bezeichnet sie in seinem gleichnamigen Buch als „gemalte Wörter“; die schwedische Sinologin, Schriftstellerin und Photographin Cecilia Lindqvist nennt China in ihrem Werk gar „eine Welt aus Zeichen“; und Kai Strittmatter, der frühere Korrespondent der „Süddeutschen Zeitung“ in Beijing, schreibt in seiner „Gebrauchsanweisung für China“, sie würden mehr erzählen als ihnen das Lexikon an Wortsinn zugestehe und ermöglichten eine Vertrautheit mit dem eigenen Altertum, die Aussenstehenden unvorstellbar sei.
Recht haben sie natürlich alle drei, doch von was genau schwärmen denn die drei China-Kenner da so begeistert? Richtig: die drei schwärmen von den chinesischen Schriftzeichen! Und auch die Grundidee hinter ihren Aussagen stimmt: die Schriftzeichen sind der „Schlüssel zur chinesischen Zivilisation“ – ein ästhetischer, künstlerischer und oft rätselhafter Schlüssel!
Diese Attraktivität, dieser Zauber, diese Anziehungskraft, die chinesische Schriftzeichen ausstrahlen, waren mit ein Hauptgrund, warum ich mich damals dazu entschlossen habe, ein Studium in dieser Richtung anzugehen. Dabei lernte ich sehr bald, dass es ein mühsamer Weg werden würde, dieses Beschäftigen mit chinesischen Schriftzeichen. Aber zugleich ein lohnender: nicht nur öffnen sie die Tür zur chinesischen Zivilisation, zu einem besseren Verständnis von Geschichte, Kultur und natürlich auch der Menschen vor Ort; nein, chinesische Schriftzeichen bilden auch eine Brücke in die Vergangenheit. Zurück sogar bis in die Zeit, in der vor 3.000 Jahren die ersten Zeichen in Schildkrötenpanzer eingeritzt wurden!
Später dienten Knochen, Steine, Metall, Bambus und schließlich Papier als Träger und Schreibunterlage, aber eines blieb erhalten: worin oder worauf auch immer chinesische Schriftzeichen verewigt wurden, sie vermitteln bis heute ein System – ein System von sichtbaren Zeichen und Symbolen. Und obwohl die Schriftzeichen im Laufe der Jahrtausende weiterentwickelt wurden – als Beispiele allein für den unterschiedlichen Schreibstil dienen Bronzeinschrift, Größere Siegelschrift, Kleinere Siegelschrift, Kanzleischrift, Grasschrift, Kursivschrift oder Regelschrift – strahlen sie bis heute eine gewisse Anmut und Grazie aus.
Dabei ist unklar, wie sie einst entstanden sind; allein dass die Orakelknochenschrift an die 3.000 Jahre alt ist, das ist allgemein anerkannt. Womit ein weiteres Faszinosum auftritt: obwohl die Schriftzeichen über die Jahrtausende weiterentwickelt, abgeändert oder neue hinzugefügt wurden, es ist trotzdem immer noch möglich, Texte, die zwei oder knapp dreitausend Jahre alt sind, mit etwas Zeit und gutem Willen zu lesen. Dies ermöglicht einen unmittelbaren Blick in die Vergangenheit, in die Geschichte Chinas und in die Entwicklung der Menschen und der Kultur in diesem Land – und stellt somit einen unglaublichen Schatz dar!
Und Schriftzeichen verbinden auch: zwar gibt es in China verschiedene Dialekte, so dass Menschen etwa im südchinesischen Guangzhou einen vorgetragenen Text im Beijinger Dialekt nur schwer oder gar nicht verstehen. Die Schriftzeichen aber sind in ganz Festlandchina die gleichen: kann man sie lesen, findet man im ganzen Land Kontakt und Anschluß.
Auch folgen die Zeichen im Aufbau oft einer gewissen Logik. Ein Beispiel: das Zeichen für „Frau“ – „女“ etwa, verbunden mit dem für „Kind“, “ 子“ bedeutet… „gut“ – also „好“. Und ganz genau das ist es auch, was mit der reinen Zeichenkombinationen dargestellt wird: eine Frau und ein Kind deuten auf Familie hin, auf Nachwuchs, auf ein gutes Leben! Das Zeichen „明“ besteht aus den Elementen für „Mond“ und „Sonne“ – und bedeutet „hell“, „leuchtend“ oder „klar“. Ganz einfach und einleuchtend ist auch „口“; es bedeutet „Mund“ oder „Öffnung“ und ist als Quadrat, ganz wie eine Öffnung dargestellt. Oder das Schriftzeichen für „Berg“, „山“: es zeigt eine Bergkette mit drei daraus herausragenden Gipfeln – und besteht dabei aus nur drei Strichfolgen!
Es muss natürlich schon erwähnt werden, dass nicht alle chinesischen Schriftzeichen so einfach zu erlernen sind und gleich vom Auge in den Verstand und auf die Zungenspitze springen. Über 50.000 dieser Zeichen soll es geben, manche sagen sogar, es seien 57.000. Doch schon etwa 3.000 reichen, um 99 Prozent der Texte in Zeitungen und normalen Publikationen lesen zu können. Das klingt viel, sicher, aber es ist machbar. Es verlangt vor allem ständiges Wiederholen, viel Willen und auch viel Zeit und Einsatz.
Das Erlernen von chinesischen Schriftzeichen ist daher auch eine Form des sich selbst disziplinierens, gerade wenn man als Nichtchinese nach der Schulzeit damit beginnt. Ich muss zugestehen, dass dies nicht immer gelingt, dieses sich selbstdisziplinieren. Aber es lohnt sich, wie ein weiteres Beispiel zeigt: „美“, das Zeichen für „schön“ oder „hübsch“. Es besteht aus zwei Komponenten: der für „groß“ – “大” , womit auch eine Person gemeint ist, die erwachsen geworden ist; und der für „Schaf“- “羊”. Das Schaf gilt in China als friedliebendes Tier und wird deshalb für diese Wesensart verehrt. Eine Person also, die erwachsen geworden ist und charakterlich die Güte und Sanftheit eines Schafs besitzt, gilt als „schön“ und „begehrenswert“ – oder eben auch als „美“.
Zuerst erschienen auf german.cri.cn