Man muss den Zen-Buddhismus nicht verstehen. Wahrscheinlich vermögen das sowieso nur die wenigsten, nach Jahren der Einkehr und des Meditierens, des intensiven sich damit Befassens. Aber das komplette Verstehen ist vielleicht gar nicht notwendig, man muss sich nur darauf einlassen, sich leiten lassen von den Ideen und Aussagen. Auch das ist nicht einfach, soll doch zum Beispiel Zen- Meister Ikkyū Sōjun einmal zu einem Suchenden gesagt haben: „Ich möchte wirklich gerne zumindest irgendetwas anbieten; aber alles, was wir im Zen haben, ist absolutes Nichts.”
Nichts ist wahrlich nicht viel, und doch kann es alles sein. Bei einem Ausflug zum Yinshan Talin, dem „Pagodenwald am Silberberg”, nur wenige Kilometer entfernt von den 13 Ming-Gräbern im Norden Beijings, bekommt man eine Ahnung, was „Nichts” sein kann und wie es sich anfühlt. Ausgesprochen gut nämlich.
Die Region war vor knapp tausend Jahren ein Zentrum des Chan-Buddhismus. Der chinesische Ausdruck Chan (禅) entstammt dabei dem Sanskritwort „Dhyana”, das in das Chinesische Chan’na (禅那) einging und heute als „Zen” bekannt ist, und übersetzt bedeutet es soviel wie „Zustand der meditativen Versenkung”. Das beinhaltet auch gleich den Hauptbestandteil des Zen-Buddhismus, das Meditieren. Und genau das konnte und kann man am Silberberg nördlich von Beijing recht gut. Die hügelige Landschaft wird nur von wenigen Dörfern und Weilern – „gestört”, möchte man fast sagen; Thujen und Eichen wachsen auf den Berghängen, es gibt Beeren und Kräuter, Nußschalen liegen auf dem Weg, am Himmel kreist ein Bussard. Der Blick vom Gipfel des Berges reicht bis zu dem Abschnitt der Großen Mauer mit dem schönen Namen “Huanghuacheng”, der „Gelben Blumenmauer”; im Sommer blühen dort auf dem wilden, also nicht restaurierten Mauerabschnitt – genau, kleine gelbe Blumen.
Das naheliegende Tal, in dem 13 Kaiser der Ming-Dynastie ihre letzte Ruhestätte gefunden haben, wurde damals von den Geomanten vor allem wegen seiner harmonischen Ausstrahlung und der perfekten Lage entsprechend des Fengshui als Begrabungsstätte ausgewählt, etwa was die Ausrichtung nach den Himmelsichtung betrifft. Eine ähnliche Kraft erfährt und spürt man am “Yinshan”, dem “Silberberg” – die Gegend strahlt zweifelsohne eine gewisse Ruhe und Erhabenheit aus. Ob dies der Landschaft selbst oder dem früheren dort gebauten “Fahua-Tempel” anzurechnen ist, deren Bestandteil die bis heute verbliebenen sieben großen Pagoden einst waren? Schwer zu sagen.
Und auch nicht ausschlaggebend: das Symbol des Zen-Buddhismus ist ein leerer Kreis, ohne Anfang, ohne Ende, was zählt ist nur die Gegenwart, das Jetzt. Und bei einer Glaubensrichtung, einer Philosophie, bei der es heißt: „Hier ist es, eben jetzt. Denk darüber nach und du verfehlst es.”, was macht es da schon aus, was für das Nichts verantwortlich ist? Ein beruhigendes Nichts übrigens, ein Nichts, welches einen umarmt und behutsam und schützend zur Seite steht; es scheint sogar, dass der Pulsschlag hier am Yinshan langsamer geht und dass Geist und Verstand klarer werden. Ruhiger. Eins.
Diese Ruhe war sicher mit entscheidend, warum dieser Berghang und die angrenzende kleine Ebene zum damaligen Zentrum des Zen-Buddhismus wurden, insgesamt 72 Tempel und kleine Pagoden sollen hier einmal gestanden haben. Und in den vielen Höhlen, die es im Silberberg gibt, haben Mönche und Zen-Meister meditiert und gelehrt. Fast meint man, hin und wieder noch einen Blick auf sie erhaschen zu können, wie sie versunken im Lotussitz einem Gedanken nachsinnieren, oder vorbei an Büschen gehend den Gliedern etwas Bewegung gönnen; wie sie die Daumen kreisend versuchen, den Moment zu greifen und ihn gleichzeitig entfliehen zu lassen. Und dann ertönt doch tatsächlich von der Aussichtsplattform auf halbem Weg zum Gipfel ein Schlag der dort angebrachten Glocke. Einmal, zweimal, dreimal hallt der Gong vom Berghang durch das Tal, die Abstände sind gleich, die Stille dazwischen wie ein Aufruf, eine Aufforderung, dem Geist endlich etwas Ruhe zu gönnen. „Wenn unser Geist Ruhe findet, verschwindet er von selbst.” Noch so ein Lehrsatz. Kann der Geist der Besucher aus dem Moloch Beijing überhaupt noch mit Ruhe umgehen, sie einfangen, sie genießen? Fraglich; nein, eher unwahrscheinlich. Schwierig auf alle Fälle.
Dabei beinhaltete der Chan-Buddhismus durchaus auch typisch chinesische Züge, flossen doch einst Elemente aus dem Daoismus und dem Konfuzianismus in die Lehre mit ein, bevor sie im 12. Jahrhundert nach Japan gelangte und dort als „Zen-Buddhismus” eine neue Ausprägung erhielt.
Die sieben im „Pagodenwald am Silberberg” heute noch erhaltenen, 15 bis 20 Meter hohen Pagoden – fünf aus der Jin-Dynastie (1125-1234) und zwei aus der Yuan-Zeit (1279-1368) – sind jedenfalls noch Zeugen und Symbole davon, wie kraftvoll der Buddhismus in der Region einst war. Die fünf Bauten aus der Jin-Dynastie sollen darüber hinaus die Asche von jeweils einem bedeutenden Mönch oder Gelehrten enthalten: von Mönch Yixing, er unterrichtete Moral; von Huitang, seines Zeichens Chan-Meister; von Mönch Fojue, Militärberater und Chan-Meister; Mönch Yuantong, Philanthrop; und schließlich von Mönch Xujing, der vor allem eigene Ideen des Chan-Buddhismus entwickelte.
Man muss aber nicht ausschließlich auf der Suche nach geistiger Klarheit oder Erleuchtung sein, auch zum Naturgenuß oder für einen entspannten Nachmittag mit etwas Picknick eignet sich ein Ausflug zum Yinshan Talin, Erholung und Durchatmen sind zusätzlich garantiert. Heißt es doch wiederum in den Schriften: „In gewissem Sinne ist Zen, das Leben zu fühlen und nicht, Gefühle in Bezug auf das Leben zu haben.”
Zuerst erschienen auf german.cri.cn