Made in China – Die MC-Szene in Peking

Made in China – Die MC-Szene in Peking

Fünfeinhalb Millionen Fahrzeuge sind aktuell in Beijing registriert, und vor allem in den letzten drei, vier Jahren hat auch die Zahl der Motorräder in der chinesischen Hauptstadt deutlich zugenommen. Und damit sind nicht die vielen kleinen Möhren chinesischen Fabrikats gemeint, mit der der Metzger am Stadtrand die Schweinehälften ausliefert oder der Onkel im Sommer vier Nachbarskinder auf einmal morgens zur Schule kutschiert – alle ohne Helm, das Moped ohne Licht und als Schutzkleidung jeder ein paar Badelatschen…

Nein, mehr und mehr „echte“ Motorräder sind auf den Straßen zu sehen, die obligatorischen Joghurtbecher aus Japan, ab und zu ein Tourer, vielleicht sogar mal eine BMW, und sehr selten eine Ducati; am meisten sind Harleys im Kommen, auch die Chinesen sind dem Chrom, dem Sound und dem Image von der Freiheit auf zwei Rädern verfallen. Und mit den Harleys kommt auch die Club-Kultur, so ähnlich wie wir sie im Westen kennen. Wobei der Ursprung der Szene hier allerdings auf Gespanne zurückgeht. Die wurden nämlich seit den 1960er Jahren beim chinesischen Militär eingesetzt; die Pläne zum Bau der Beiwagenmaschinen kamen damals von den Russen, die ihrerseits nach dem Krieg die R71 von BMW aus den 30er Jahren nachbauten, unter den Namen „Ural“ oder „Dnjepr“. In China erhielt sie den Namen „Changjiang 750“ kurz „CJ“ – das steht für „Langer Fluß“, so nennen sie vor Ort den Jangtsekiang, den längsten Fluß Chinas.

Einige Mechaniker bauten sich dann nach ihrer Zeit bei der Armee selbst eine kleine Werkstatt auf und handelten mit den CJs und den dazugehörigen Ersatzteilen. Die Gespanne wurden vor allem in den 90ern technisch verbessert, es kamen 12 Volt-Drehstromlichtmaschinen hinzu, ein elektrischer Anlasser, Scheibenbremsen – der klassische Look aus den 30ern in Kombination mit modernen Bauteilen kam an. Alte Biker erzählen noch heute gerne von den Hochzeiten dieser Szene Anfang der Nullerjahre: das Kneipenviertel Sanlitun war damals am Wochenende der Treffpunkt, 100, oft 150 Biker haben sich dort mit ihren Gespannen regelmäßig versammelt. Ein kleiner Schwatz, ein, zwei Bierchen, Ersatzteile tauschen, eine Tour für den nächsten Tag zurechtlegen, das Übliche halt. „Southtown Boys“, „Snow Wolves“, „Beijing Dragons“ oder „Red Medal“ nannten sich die Jungs damals; organisiert war wenig, meist hat der Besitzer einer Werkstatt einfach seine Kundschaft zusammengetrommelt, eine Route vorgeschlagen und einen Mechaniker abgestellt – die Kisten waren und sind trotz allem noch etwas anfällig, gerade bei hohen Temperaturen – und los ging’s. Keine MCs also im eigentlichen Sinn, keine Kutten, keine Farben, nur ein paar Jungs auf ihren Beiwagenkisten. Einige dieser Jungs, Mitglieder des “Bullfroggies Beijing Sidecar Club”, organisierten im Sommer 2004 sogar eine Parade mit 317 Bikes und Beiwagenmaschinen – und kamen damit ins Guinness Buch der Rekorde!

Im Vorfeld der Olympischen Spiele in Beijing 2008 wurde dem Ganzen dann jedoch ein Riegel vorgeschoben, es heißt, die Behörden wollten während des Großereignisses eventuelle Erinnerungen an Kriegszeiten vermeiden. Tatsächlich wurde auch besagtes Kneipenviertel teilweise trockengelegt, Changjiang-Besitzer erhielten keine Zulassung mehr, Gespanne auf den Straßen wurden konfisziert. 2008 war Beijing dann tatsächlich „Beiwagen-frei“, und das war’s dann auch mit den Treffen und Ausfahrten an den Wochenenden.

Erst 2009 wurde der offizielle Verkauf und der Handel von CJs in Beijing wieder erlaubt, und ab diesem Jahr waren dann auch schon mehr Harleys unterwegs; vor allem Expats, also meist Westler, die eine gewisse Zeit beruflich in der chinesischen Hauptstadt verbringen, besorgten sich schwere Motorräder und machten damit quasi die Straßen unsicher. Und mit ihnen kam dann auch die Idee, MCs zu gründen. So wie der „Long March MC“. Die Jungs starteten 2006 als Beiwagen-Club, 2009 wurde dann „umgerüstet“ von drei auf zwei Räder und seitdem hat sich der LMMC mehr oder weniger zu einem reinen Harley-Club entwickelt. 2010 kam das Patch. Die Mitglieder stammen aus China, den USA, Australien, Russland und… „ …einer kommt von `ner Insel, ich weiß nur nicht ganz genau, von welcher, haha“, so Clay, der Präsident des „Long March MC“. Er stammt ursprünglich aus Alabama, lebte in den 1970er in Stuttgart und ist seit 2004, 2005 in Beijing. Er kennt also die Gegebenheiten in den USA und in Deutschland und weiß, dass dahingehend in China noch einiges an Aufklärungsarbeit zu leisten ist: „Wir versuchen, die Motorrad-Kultur hier zu verbreiten; Loyalität, Bruderschaft, aber auch Zweiradsicherheit und Wissen über Motorräder. Wir verbreiten das über chinesische Medien, aber auch durch persönliches Beispiel.“

Dass dieses Wissen und die grundlegende Idee eines MCs noch relativ neu sind in China, bestätigt Yoyo. Er stammt ursprünglich aus Hamburg und ist Präsident des 2010 ebenfalls in Beijing gegründeten „Expendables` MC“: „Das ist definitiv ein neues Phänomen hier in China, und das hat Vor- und Nachteile. Die Leute hier sind relativ offen demgegenüber, man wird nur wenig mit negativen Cliches konfrontiert, dafür eher aus Interesse heraus angesprochen. Ein Nachteil ist zum Beispiel, dass hier Mopedfahren als Freizeitvergnügen relativ unbekannt ist: das Motorrad ist einfach ein Transport- und Verkehrsmittel. Und vieles ist mit Geld verbunden: Harleys und andere große Maschinen sind einfach sehr teuer.“

Seit einem Jahr etwa unternehmen die „Expendables`“ und der „Long March MC“ auch gemeinsame Touren oder sind zusammen auf Veranstaltungen vertreten, wie etwa im September 2013 auf einem Tattoo-Event mit Ed Hardy im Kunstviertel 798. Sie verstehen sich mittlerweile als „Bruder-Clubs“ und pflegen die gleichen Ideale: „Unsere zwei Clubs stehen nicht dafür, nur ein teueres Hobby zu sein. Ganz und gar nicht, und das unterscheidet uns vielleicht von anderen Clubs hier.“, so Yoyo. Sowohl LMMC als auch EMC sind zwar multikulti, was die Mitglieder betrifft; Clay von den Long Marchern betont jedoch, dass es trotzdem nicht einfach sei, aufgenommen zu werden: „Beim Letzten dauerte es über ein Jahr, bevor er Voll-Member wurde. Und wir haben eben über Bruderschaft gesprochen: dieses Konzept, für die anderen Brüder (im Club) Opfer zu bringen, diese Form der Loyalität ist so in der Art und Weise meiner Meinung nach nicht Teil der chinesischen Kultur.“.

Bevor man aber überhaupt erst einmal Anwärter werden kann, braucht man ein Moped, und die sind wie bereits erwähnt vor allem eins: teuer. Eine neue Harley Sportster 883 zum Beispiel ist derzeit für etwa 100.000 RMB (rund 12.000,- Euro) zu kriegen; und dann braucht man noch ein legales Nummernschild – seit 2013 aber vergibt die Beijinger Stadtregierung keine Zulassungen mehr für Motorräder, die auch im Zentrum der chinesischen Hauptstadt gefahren werden dürfen. In anderen chinesischen Städten und Bezirken hat die Verwaltung Motorräder gleich ganz von den Straßen verbannt beziehungsweise sie rein rechtlich Elektrofahrrädern und Rollern gleichgestellt; das bedeutet, man darf damit nicht auf bestimmten Hauptstraßen oder (Stadt-) Autobahnen fahren. Die offizielle Begründung: Schutz der Umwelt und Reduzierung des Verkehrsaufkommens. Und in Guangzhou etwa, unten in Südchina, in Deutschland bekannt als „Kanton“, dürfen Motorräder aus anderen Städten oder Landesteilen erst gar nicht die Stadtgrenze überqueren…

Doch bleiben wir in Beijing: kostete hier 2009 ein Nummernschild mit einer Gültigkeit von 12 Jahren und der Erlaubnis, auch das Zentrum zu befahren, 12.000 RMB (knapp 1.500,- Euro), so werden heute aufgrund des Ausgabestops gebrauchte Schilder für bis zu 75.000 RMB (etwa 9.000,- Euro) gehandelt. Zwar sind viele Mopeds mit gefälschten Nummernschildern unterwegs, aber im Falle einer Kontrolle oder eines Unfalls gibt’s Ärger – und die Maschine wird konfisziert.

Liang Jun vom „HC 8 MC“ weiß um dieses Problem, aber er nimmt es eher gelassen: „Es gibt nur relativ wenig große Motorräder hier, und wenn man keinen groben Blödsinn macht, ist die Polizei sowieso zu sehr damit beschäftigt, die vielen Autofahrer und den normalen Verkehr zu kontrollieren.“

„HC 8“ geht auf „huan che“ zurück, es bedeutet in etwa soviel wie „das Fahrzeug verändern“ oder „erweitern, daran herumschrauben“. Und die „8“ wird „ba“ ausgesprochen, das klingt so ähnlich wie ein chinesischer Ausdruck für „Club“. Der MC hat sich Anfang 2013 gegründet, besteht aus knapp 50 chinesischen Mitgliedern und nur 6 Ausländern – und hat mittlerweile bereits 5.000 Follower auf „Weibo“, dem größten Mikroblogging-Dienst in China, der so ähnlich funktioniert wie Twitter. Die Jungs fahren größtenteils Harleys, und obwohl die Motorräder aus Milwaukee offiziell seit 2005 in China verkauft werden, kamen und kommen manche auch in Einzelteilen verpackt über irgendeine  Landesgrenze, wie Sun Hu, der Präsident des „HC 8 MC“, gehört haben will.

Die Jungs vom „HC 8 MC“ verbindet natürlich wie alle anderen auch die Lust am Ausfahren, jedes Wochenende sind sie unterwegs, eine Tour durch die Berge im Norden der Hauptstadt oder durch die Vororte im Osten geht immer. Anders als beim LMMC und dem EMC sind jedoch keine besonderen Aufnahmekriterien für neue Mitglieder nötig, so der Präsident: „Na ja, wir haben uns erst gegründet, das ganze ist noch etwas neu. Die Typen müssen natürlich schon zu uns passen, aber ansonsten kann jeder mit einem guten Motorrad bei uns zumindest mal mitfahren. Wir überlegen aktuell jedoch schon, gewisse Regeln einzuführen. Was wir auf alle Fälle machen: jeder, der mitfährt, erhält eine Einweisung in Sachen Verkehrssicherheit.“, so Sun Hu.

Das schadet in Beijing sicherlich nicht, gerade zu den Stoßzeiten vor 9.00 Uhr morgens und nach 17.00 Uhr kann es schon passieren, das genervte und gestresste Autofahrer auf den Rad- und sogar auf den Gehweg ausweichen, um die endlosen Staus und Blechlawinen im Berufsverkehr zu umgehen. Auch sonst wird im Straßenverkehr wenig Rücksicht auf schwächere oder benachteiligte Verkehrsteilnehmer genommen, das größte oder teuerste Auto hat meist Vorfahrt, Ampelphasen sind manchmal nur reine Empfehlungen. Das ist nicht weiter schlimm, wenn man sich erst einmal an die Verhältnisse vor Ort gewöhnt hat – und das geschieht zwangsläufig schnell. „Spechten muss man wie ein Luchs“, wie ein Besucher einmal beobachtet hat, besser kann man es nicht ausdrücken. Biker Liang Jun vom „HC 8“ sagt, man wolle in Zukunft auch Fahrten außerhalb Chinas unternehmen, wer weiß, vielleicht sogar einmal in Deutschland, da könne man gewiss viel in punkto Sicherheit lernen.

Sicherheit rund um das Moped, vorausschauendes Fahren, umsichtiges Verhalten, diese Grundeigenschaften wollen auch Clay (LMMC) und Yoyo (EMC) in Zukunft in Beijing verstärkt vermitteln. Die beiden „Bruder-MCs“ wollen das Thema Sicherheit jedoch nicht nur innerhalb der eigenen Clubs besser hervorheben, auch mit anderen Clubs vor Ort soll dahingehend Kontakt aufgenommen werden. Aber die beiden haben sich noch mehr vorgenommen, so Yoyo: „Die Idee von MCs hat in den USA eine lange Tradition, ebenso in Deutschland. Hier in China hat im Gegensatz dazu die Familie einen hohen Stellenwert, und so ist für viele von uns eben der Club so etwas wie ein Ersatz dafür geworden. Aber wir sind „old school“, und so handhaben wir die Dinge auch, genau so wie die Jungs vom LMMC. Wir haben vielleicht nicht so viel Kohle und einige von uns haben nur alte Möhren, die immer wieder mal liegen bleiben. Aber wir machen halt das Beste daraus, schwingen uns auf unser Moped und los geht’s.“. „Ganz genau“, sagt Clay, „genau das macht einen echten Biker aus; ’ride and party’ mit Deinen Kumpels und vertrau’ dem Typen neben Dir.“

Weitere Pläne für die Zukunft? Man wolle definitiv die Motorradkultur populärer machen, vielleicht mit einem Filmfestival, so Clay. Aber es sei schwierig, alles müsse mehr oder weniger in der Anonymität organisiert werden, denn die Behörden hier seien eben: sehr autoritär. Genau das wiederum, so Yoyo, mache es aber auch so aufregend, es gebe immer Stoff für neue Geschichten. Aber eins sei auch klar: „Wir sind ein 3-Patch-Club, und da gibt es eine gewisse Tradition und ein gewisses Protokoll, das wird von anderen Clubs in Beijing oder in China nicht immer so gesehen. Da kann man sich eine Kutte einfach kaufen. Mir aber haben schon immer die alten Clubs aus den 60ern und 70ern imponiert. Es ist eine gewisse Form der Subkultur, mit der ich mich viel besser identifizieren kann, mehr als mit der in den letzten 15, 20 Jahren auch bei uns in Deutschland vorherrschenden. Hier in China ist das alles neu, das gibt die Möglichkeit, den Club so zu führen, wie man es für richtig findet.“

Und Clay aus Alabama fügt hinzu: „So ist es, ich finde, es ist sogar so eine Art „70s Revival“. Nämlich in dem Sinne, was einen Motorradclub eigentlich ausmacht. Aber es ist schwierig, die Standards aufrechtzuerhalten: wenn etwa ein anderer Biker liegen bleibt, dann halt ich an und helfe. Und dann geht es weiter mit den Jungs und wir haben einfach Spaß am Fahren und machen am Abend `ne kleine Party.“.

Und sonst? Man wolle ein gemeinsames Clubhaus auf die Beine stellen, aber, so Clay: „Wir mussten unseres vor kurzem aufgeben. Versuch’ mal hier als MC ein Clubhaus aufzubauen oder zu mieten, wenn sämtlicher Grund per Gesetz dem Staat gehört…“.

Alles sehr speziell also hier, die Biker-Szene in Beijing/China. Und vielleicht gerade deshalb so spannend, faszinierend und unterhaltsam.
Denn dass die Szene in Beijing durchaus etwas Besonderes ist, zeigt das Beispiel des MC „185“: die Mitglieder sind alle Models oder Künstler und in China im Bereich Fashion, Film und Musik durchaus berühmt. Die „185er“ sind dementsprechend viel in Videos zu sehen, auf Wohltätigkeitsveranstaltungen anzutreffen oder sogar auf Events wie kürzlich dem Han-Fu-Kulturfestival vertreten. Eines der Aufnahmekriterien: ein Member muss mindestens 185 cm groß sein – daher auch der Name.

 

In überarbeiteter Form zuerst erschienen in BikersNews, 05/14

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